Die hohen Strompreise beeinflussen wichtige Investitionsentscheidungen

Frankfurt (energate) – Seit geraumer Zeit befinden sich die Stromgroßhandelspreise im Höhenflug. Energieintensive Industrien wie die Chemiebranche setzt dies unter Druck. Der Branchenverband VCI sieht die Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen bedroht. Im Interview erklärt Jörg Rothermel, VCI-Abteilungsleiter Energie, Klimaschutz und Rohstoffe, wo es hakt und nennt Lösungsansätze.

energate: Herr Rothermel, die Stromgroßhandelspreise haben seit Anfang Juli deutlich angezogen. Wo sehen Sie die entscheidenden Preistreiber?

Rothermel: Die Entwicklung der Großhandelspreise ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Preistreiber sind zum einen die erhöhten Brennstoffkosten für Gas und Kohle, die den Kraftwerksbetrieb verteuern. Zum anderen ist da die CO2-Bepreisung im Handel mit Emissionszertifikaten, die wir als den entscheidenden Preistreiber der vergangenen Monate sehen. Schließlich sind es in Deutschland nach wie vor Kohlekraftwerke, die für die meiste Zeit des Jahres bestimmend für den Stromgroßhandelspreis sind. Mit dem Emissionsfaktor, der hinter der Kohlekraft steht, entsteht gleichsam eine 1:1-Verteuerung beim Strompreis, wenn die Emissionszertifikate teurer werden. Jeder Euro CO2-Preiserhöhung bedeutet auch 1 Euro/MWh an Strompreiserhöhung. Weil wir im vergangenen halben Jahr eine CO2-Preiserhöhung um 15 bis 20 Euro gesehen haben, stieg in dieser Zeit der Strompreis entsprechend. Obwohl nunmehr nach und nach immer mehr Kohlekraftwerke abgeschaltet werden, wird das noch eine Zeit lang so bleiben.

energate: Sowohl auf Bundes- als auch auf EU-Ebene sollen Carbon-Leakage-Schutzverordnungen für Entlastung sorgen. Wie gut funktioniert das?

Rothermel: Die Carbon-Leakage-Schutzverordnung auf Bundesebene zielt auf das Brennstoffemissionshandelsgesetz ab, hilft somit bedingt bis gar nicht, weil sie nicht den Strom, sondern die Brennstoffe selbst adressiert, auf die ein CO2-Preis wirkt. Die Carbon-Leakage-Schutzregelung auf europäischer Ebene im Emissionshandel bringt hingegen schon eine Entlastung, weil dort eine Strompreiskompensation vorgesehen ist. Ebensolche Preissteigerungen, wie wir sie erlebt haben, sollen nach EU-Emissionshandelsrichtline kompensiert werden. Das geschieht allerdings jeweils mit zweijähriger Verzögerung, weil es das derzeitige System dazu so vorsieht. Das bedeutet, dass diejenigen Unternehmen, die tatsächlich eine Kompensation erhalten, trotzdem zunächst mit den höheren Kosten leben müssen.

energate: Hierzulande ist Strom im europäischen Vergleich teuer. Was bedeutet das für den Deutschland als Standort energieintensiver Industrien, drohen Arbeitsplatzabbau oder Abwanderung, sofern die Politik nicht gegengesteuert?

Rothermel: Mit der Befreiung von staatlich induzierten Belastungen wie der EEG-Umlage oder der Ökosteuer wird ja bereits gegengesteuert. Diese Entlastungen bringen den Strompreis für stromintensive Industrien in Deutschland so weit runter, das die Unternehmen noch in Deutschland produzieren können. Ohne diese Entlastung wäre längst einiges mehr an Produktion aus Deutschland verschwunden. Gleichwohl helfen Regelungen wie die Besondere Ausgleichsregelung, Eigenerzeugungsentlastung oder Ökosteuerspitzenausgleich und Ähnliches nicht bei steigenden Großhandelspreisen. Ab wann solche Preissteigerungen dazu führen, dass Unternehmen ihre Produktion nicht mehr in Deutschland weiterführen kann, ist im Einzelfall zu beurteilen. Klar ist: Wenn die stromintensive Produktion dadurch dauerhaft zu teuer ist, lohnt es sich nicht mehr, sie in Deutschland zu halten. Dann würden die Unternehmen sicherlich verlagern.

Allerdings ist es unmöglich, pauschal zu definieren, was dauerhaft in diesem Zusammenhang bedeutet. Da spielen für die einzelnen Unternehmen zahlreiche Faktoren eine Rolle, beispielsweise mit welchen Verträgen und zu welchen Konditionen sie ihren Strombedarf decken. Handelt es sich um langfristige Lieferverträge oder bezieht ein Unternehmen den Großteil des Stroms vom Spotmarkt, wo die Händler mit den Preisschwankungen arbeiten müssen? Vor diesem Hintergrund werden wir kurzfristig sicher nicht den Niedergang der energieintensiven Industrie erleben. Trotzdem bleibt zu beachten, dass immer mehr Unternehmen in Probleme kommen, wenn uns ein sehr hohes Preisniveau langfristig erhalten bleibt.

energate: Hat die aktuelle Hochpreisphase damit keine Auswirkungen auf die energieintensive Produktion in Deutschland?

Rothermel: Die hohen Großhandelspreise haben sehr wohl einen Einfluss auf wichtige Entscheidungen, die die Industrie aktuell trifft. Dabei geht es nicht um den aktuellen Bestand, sondern um die Überlegungen zu Investitionen in zukünftige neue stromintensive Technologien, also solche, die für die Transformation hin zur Klimaneutralität notwendig sind. Als Branchenverband der Chemieindustrie haben wir deutlich gemacht, dass wir für diesen Dekarbonisierungspfad deutlich mehr Strom benötigen werden als bisher. Dieser Strom muss zu wettbewerbsfähigen Konditionen bereitstehen, sonst werden die Investitionen nicht getätigt. Wenn wir es mit steigenden anstatt mit fallenden Strompreisen zu tun haben, machen sich einige unserer Unternehmen Sorgen, ob sie in Zukunftstechnologien wie eine Wasserstoffproduktion per Elektrolyse am Standort Deutschland investieren können.

energate: Mit welchem Preis wären Unternehmen in der Lage, hierzulande weiter in Zukunftstechnologien wie Wasserstoff zu investieren?

Rothermel: Um Wasserstoff so günstig herzustellen, dass die Produktion dauerhaft wirtschaftlich wird, brauchen wir mittelfristig einen Strompreis von 4 Cent/kWh, und zwar als Komplettstrompreis inklusive aller Umlagen. 4 Cent wären also das, was ein Unternehmen letztendlich maximal zahlt. Würde man heute bereits mit einer Wasserstoffproduktion wirtschaftlich arbeiten wollen, müsste der Strompreis sogar noch 1 bis 2 Cent darunter liegen.

energate: Wie weit sind Sie heute von diesen 4 Cent entfernt?

Rothermel: Wie teuer der Strom aktuell für energieintensive Unternehmen ist, hängt davon ab, in welcher Höhe diese Entlastungen in Anspruch nehmen können. Für ein maximal entlastetes Unternehmen liegt der Komplettstrompreis aktuell zwischen 6 Cent/kWh und 7 Cent/kWh. Allerdings sehen gerade Mittelständler und kleinere Unternehmen kaum oder gar keine Entlastungen für sich. In solchen Fällen tendiert der Preis eher in Richtung 15 Cent/kWh. Wenn zudem nun der Großhandelspreis schon ein Niveau von 6 bis 7 Cent erreicht, sind wir sehr weit entfernt von unserer 4-Cent-Forderung für den kompletten Industriestrompreis in Europa.

energate: Bis wann sollten die 4 Cent/kWh Realität sein?

Rothermel: Wir gehen davon aus, dass wir Anfang der 2030er-Jahre bei der Wasserstoffproduktion in die Wirtschaftlichkeit kommen. Das heißt, bis dahin werden wir dieses Strompreisniveau brauchen. Allerdings gilt: Je früher wir in diese Kategorie des Strompreises kommen, umso früher wird unter Umständen in Investitionen in Wasserstoff-Produktionsanlagen nachgedacht. Wenn wir also die Transformation in der Chemieindustrie beschleunigen wollen, muss dieses Niveau entsprechend schneller erreicht werden.

energate: Welche Stellschrauben zur Preisgestaltung sehen Sie, um auf 4-Cent zu kommen?

Rothermel: In ersten Schritten gilt es mit den gesamten staatlich induzierten Steuern, Abgaben und Umlagen so weit wie möglich runterzugehen. Das bedeutet, am Ende bliebe der Großhandelspreis plus eine Marge für die Energieversorger. Dann muss man schauen, wie weit dieser Preis von den 4 Cent weg. Es wird ja immer davon geredet, dass die Preise mit dem fortlaufenden Umstieg auf Erneuerbare weiter fallen, weil Sonne und Wind keine Rechnung stellen. Gleichwohl werden wir natürlich nicht zu 0 Cent produzieren können, zumal beispielsweise Windparks, die aus der Förderung gefallen sind, heute 4 bis 5 Cent benötigen, um wirtschaftlich nicht stillgelegt zu werden.

energate: Was sollte für den Fall passieren, dass dieser Grundpreis über der angestrebten Marke liegt?

Rothermel: Unser Vorschlag dazu ist das Modell eines echten separaten Industriestrompreises, so wie es ihn etwa in Frankreich für einzelne Bereiche der stromintensiven Produktion gibt. Finanzierbar wäre dieser Preis über Fondsmodelle und Ähnliches. Am Ende des Tages wird der Industriestrom subventioniert werden müssen. Sei es dadurch, dass die verbleibenden Kosten auf die übrigen Verbraucher umgelegt werden, oder dass es aus der Staatskasse kommt. Die 4 Cent werden in diesem Sinne nicht zum Nulltarif zu haben sein, auch weil die Stromversorger Einnahmen brauchen, um den Strom zu produzieren.

energate: Einige energieintensive Unternehmen setzen bei der Dekarbonisierung lieber auf Elektrifizierung als auf die Umstellung auf Wasserstoff. Welches ist der bessere Weg?

Rothermel: Entscheidend ist, wie und wofür der Wasserstoff eingesetzt wird. Betrachtet man das Einsatzgebiet als Brennstoff, etwa zur Wärmeerzeugung, ist Wasserstoff sehr teuer und nicht sinnvoll. Für energetische Zwecke gibt Überlegungen, elektrische Energie direkt in Wärme umzuwandeln und beispielsweise Teile der Dampferzeugung zu elektrifizieren. Dem stehen allerdings die derzeitigen Strompreise entgegen. Aktuell ist es für energetische Zwecke in einer KWK-Anlage oder in einem Wärmeboiler nach wie vor am günstigsten, Wärme aus Erdgas zu erzeugen, dann folgt Strom, Wasserstoff ist schließlich die teuerste Alternative. Trotzdem gibt es Bereiche der stofflichen Nutzung, in denen wir “grünen” Wasserstoff brauchen, um von der fossilen Basis wegzukommen, etwa um in der Stahlindustrie Eisenerz zu reduzieren oder in der Chemie zur Herstellung von Kohlenwasserstoffen.

energate: Wie groß ist der H2-Bedarf der Chemie für die stoffliche Nutzung?

Rothermel: Dafür werden wir rund 7 Mio. Tonnen Wasserstoff benötigen, wie wir es in einer Szenarioanalyse in unserer Roadmap dargelegt haben. In Energieeinheiten ausgedrückt sind dies mehr als 300 Mrd. kWh. Zum Vergleich: Die gesamte Energie, die wir heute für unsere Prozesse benötigen, liegt bei etwas mehr als 50 TWh Strom und etwa 90 TWh Gas.

energate: Nicht erst seitdem die Bundesregierung ihre Strombedarfsprognose aktualisiert hat, betonen Sie, dass Ihr Ökostrombedarf in Zukunft deutlich steigt. Wo geht die Reise hin?

Rothermel: Wir werden sicher noch Effizienzgewinne in vielen Bereichen sehen, aber diese haben auch Grenzen, gerade in der Industrie. Wenn es nicht gelingt, dass Deutschland künftig in allen Bereichen deutlich energieeffizienter wird, werden wir die 2.500 TWh Endenergieeinsatz, die wir hierzulande aktuell haben, komplett mit CO2-freiem Strom abdecken müssen. Hinzu kommen etliche hundert TWh Strom, welche unter anderem für den Hochlauf der E-Mobilität und die Dekarbonisierung der Stahlindustrie nötig werden. Rechnet man allerdings mit ein, dass wir den Bedarf über Effizienzmaßnahmen und entsprechende Technologie um 20 Prozent senken können, landen wir in einem Bereich von rund 3.000 TWh. Gemessen am aktuellen Bestand an Ökostromproduktion in Deutschland müssten wir die Kapazitäten von derzeit 300 TWh somit verzehnfachen. Es gilt also, einen immensen Berg abzuarbeiten. Das werden wir in Deutschland allein nicht realisieren können. Deshalb brauchen wir einen hochpotenten europäischen Markt.

Die Fragen stellte Philip Akoto, energate-Redaktion Essen.

Bildquelle: VCI

18.08.2021
Energiemarkt